Magische Teilchen? Woher kommt der Begriff "Dunkle Materie"?
Klaas de Boer, Univ. Bonn |
Dunkle Materie (DM) ist Materie, die wir nicht sehen, nicht im optischen Bereich und nicht in irgendeinem anderen Bereich des elektromagnetischen Spektrums. Gewisse Beobachtungsfakten deuten aber darauf hin, dass Galaxien viel mehr Materie enthalten als die bekannte. Da solche Materie nicht gesehen wird, wurde dafür mangels Besserem der Name "Dunkle Materie" gewählt.
Da man die vermutete Materie nicht sieht, wie kamen dann Astronomen dazu, die Existenz der Dunklen Materie zu postulieren? Erste Indizien kamen aus der Verteilung der Sterne in unserer Galaxis mit Hilfe der Stellarstatistik. Später entdeckte man Unerklärbares bei der Studie des Rotationsverhaltens unserer Galaxis. Nachdem mit Hilfe der Radiosynthese-Teleskope die Rotationsgeschwindigkeiten anderer Galaxien untersucht werden konnten, kam man nicht mehr um das Problem herum: Es gibt offenbar mehr als wir sehen, oder.....?
Struktur und Bewegung in der Milchstraße
Sternzählungen und Dunkle Materie
Anfang des 20.Jh hat man sehr genaue Zählungen von Sternen durchgeführt, um aus deren räumlicher Verteilung die Struktur der Galaxis abzuleiten. Man sortiert die Sterne nach Helligkeit, und benutzt dann die Abschwächung des Sternlichtes nach der normalen Entfernungsregel (1/r2 mit r = Entfernung), um die räumliche Dichte in Entfernungsbereichen zu berechnen.
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Trotz dieser und anderer Komplikationen führten solche Sternzählungen zu der Vermutung, dass die beobachtete Verteilung der Sterne senkrecht zur Scheibe eine größere durch Gravitation hervorgerufene Kraft erfordert, als man aus der Menge der bekannten Materie erklären konnte. Schon 1932 berichtete Jan Hendrik Oort über eine "Dunkle Scheibe", ein Befund, der nach vielen ähnlichen Studien auch im 21. Jahrhundert noch von vielen Astronomen für richtig gehalten wird.
Rotation unserer Galaxis und Dunkle Materie
Galaxien rotieren um ihr Zentrum. Die Geschwindigkeit der Rotation sollte nach Kepler (wie in unserem Planetensystem) bis in große Entfernung vom Zentrum etwa wie r−0.5 abnehmen. Die Rotation der Milchstrasse war schon lange aus den Bewegungen der Sterne in der Sonnenumgebung bekannt. Leider kann die Umlaufgeschwindigkeit in großen Teilen der inneren Galaxis nicht aus Geschwindigkeiten der Sterne gewonnen werden, da die Sterne dort eben durch staubige Gaswolken verdeckt sind. Aber der Wasserstoff im Gas liefert uns eine gute Möglichkeit die gesuchte Geschwindigkeit zu messen.
Das in der Galaxis allgegenwärtige Wasserstoffgas strahlt im Radiobereich bei 21 cm Wellenlänge. Diese Strahlung dringt einfach durch Gas- und Staubwolken hindurch. Da die Wellenlänge der Strahlung genauestens bekannt ist, kann aus der Abweichung der aktuell gemessenen Wellenlänge über den Doppler-Effekt die Geschwindigkeit der Gaswolke abgeleitet werden. Die Entfernungen der Gaswolken sind auf diese Art allerdings nicht bestimmbar. Aber, nehmen wir realistischerweise an, dass das Gas auf Kreisbahnen um das Zentrum der Galaxis läuft, dann hat das Gas längs eines beliebigen Sehstrahls in Richtung des inneren Bereichs der Galaxis im sogenannten Tangentialpunkt seine größte Dopplergeschwindigkeit (siehe Abb.2). Betrachtet man nun mehrere Sehstrahlen so bilden die an den Tangentialpunkten gesammelten Geschwindigkeiten und Abstände vom Zentrum die sogenannte Rotationskurve.
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Ein weiterer wichtiger Parameter muss noch gefunden werden: die Entfernung der Sonne vom Zentrum der Milchstrasse. Da Sterne im Zentrum eben unsichtbar sind, benutzt man die räumliche Verteilung der Sterne im weiteren Umfeld des galaktischen Zentrums. Sterne müssen wegen der Wirkung der Schwerkraft generell etwa sphärisch (oder ellipsoidal) um das Zentrum verteilt sein. Zwei Arten von Objekten eignen sich am besten für die Bestimmung der räumlichen Verteilung, da man von beiden Typen die Entfernung relativ einfach bestimmen kann. Für die Kugelsternhaufen, die weiträumig etwa sphärisch um das Zentrum verteilt sind, findet man die jeweilige Entfernung einfach aus der Photometrie: das beobachtete Farben-Helligkeits-Diagramm wird mit dem Referenz-Diagramm verglichen: Der Unterschied in der Helligkeit ist entfernungsbedingt. Für alle variablen Sterne des Typs RR Lyra ist die absolute (die intrinsische) Helligkeit (Mittelwert über den Lichtwechsel) konstant, so dass aus der gemessenen Helligkeit unmittelbar die Entfernung folgt. Misst man nun viele RR Lyra Sterne in einer definierten Richtung, so folgt aus den individuellen Entfernungen, wo auf dieser Strecke die Raumdichte am größten ist. Dies muss der Punkt mit der geringsten Entfernung vom Zentrum der Milchstraße sein, so dass aus der Geometrie die Entfernung der Sonne zum Zentrum unserer Milchstraße folgt.
Nach all solchen Untersuchungen weiss man, dass die Entfernung der Sonne zum Zentrum der Milchstraße etwa 8.5 kpc (etwa 25 Tausend Lichtjahre) beträgt, und dass die Umlaufgeschwindigkeit der Sonne um das Zentrum der Milchstraße etwa 220 km/s ist.
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Nun zur DM! Normalerweise sollte die Rotationsgeschwindigkeit nach aussen in der Galaxis etwa wie r−0.5 abnehmen, nach dem Keplerschen Gesetz. Die Beobachtungen zeigen aber eine nach aussen hin konstante Geschwindigkeit, die Rotationskurve ist "flach" (Abb.3). Eine flach bleibende Rotationskurve kann man verstehen, wenn die Galaxis mehr Masse enthalten würde, als im Rotationsmodell berücksichtigt wurde. Aber für zusätzliche Masse gibt es sonst keinen Hinweis! Das heisst, auch hier wird DM gebraucht. Und die Menge könnte gigantisch sein. Unsere Galaxis hat 1 bis 2 1011 Sonnenmassen (100 bis 200 Milliarden) an sichtbarer Materie, die Erkenntnisse aus der Rotationskurve führen, je nach Modell, zu einer 5- bis 10- fachen Menge an Dunklen Materie!
Struktur und Bewegung in anderen Galaxien
Bei der Untersuchung anderer Galaxien hat man den Vorteil, sie meistens komplett sehen zu können. Und die vom Gas in solchen entfernten Galaxien freigesetzte 21-cm Strahlung kann sehr wohl gemessen werden. Mit Hilfe der Radiosynthese-Teleskope (Gruppen gleicher Antennen, die zeitlich koordiniert messen) können von solchen anderen Galaxien feine Strukturen gesehen werden.
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Die Radiosynthese-Technik erlaubt es, die Rotationskurven solcher Galaxien sehr genau zu vermessen. Allerdings nur gut bei Galaxien, die man auf deren Kante sieht (Abb.1a). Mit der Geometrie wie in Abb. 2 als Grundlage gilt auch in den entfernten Galaxien, dass die größte bei einem bestimmten Radius gemessene Geschwindigkeit gleich der Rotationsgeschwindigkeit ist. Auch der äusserste Rand der Scheibe des Wasserstoffgases ist messbar, man findet die Rotationsgeschwindigkeit bis in weit größerer Entfernung vom Zentrum als es in unserer Galaxis möglich ist. Durch die Arbeiten von Bosma (Abb.4) war Ende der 70er Jahre klar geworden, dass solche anderen gashaltigen Spiralgalaxien flache Rotationskurven haben. Es gibt also bei diesen anderen gashaltigen Galaxien auch die Notwendigkeit, immer viel mehr Materie in die Modelle einzubeziehen, als es "sichtbare" Materie gibt.
Eingeräumt werden muss, dass die Modellierung der Rotationskurven einiges an Freiraum lässt. Aber auch wenn versucht wird, die Fehlerbereiche so weit wie möglich auszureizen, um alles mit bekanntem Scheibenmaterial zu erklären, so ergibt sich dennoch die Notwendigkeit großer Mengen an DM (Abb.5).
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Offenbar enthalten Galaxien, so wie es aus dem dynamischen Verhalten abgeleitet wird, viel mehr Materie, als Astronomen "sehen" können. Die Daten zum Rotationsverhalten zusammen mit den Gesetzen zur Gravitation erfordern daher in den Modellen eine letztendlich unerklärbare zusätzliche Massenkomponente. Masse in aller Art "normaler" Objekte kann zur Erklärung ausgeschlossen werden, aus den verschiedensten Argumenten heraus. So würden viele "Braune Zwerge" nicht passen zu unserem Verständnis der Statistik bei der Sternentstehung und auch "Schwarze Löcher" können die DM nicht erklären, da dafür dann zu viele massereiche Sterne hätten entstehen müssen. Also bleibt nur das unerklärte, die postulierte "Dunkle Materie". In den Modellen zur Rotation der Galaxien steckt daher gewissermaßen einen "Pfuschfaktor", eben Dunkle Materie genannt, um Messung und Rotations-Modell in Einklang zu bringen. Die Hinweise kommen alle aus den Bewegungen, basieren daher alle auf der Schwerkraft.
Bewegungen in Galaxienhaufen
Ein anderer Hinweis auf die Existenz zusätzlicher "Masse" in Galaxien kam von Zwicky (1932). Er untersuchte die Bewegung von Galaxien in einem Galaxienhaufen. Er fand, dass die Geschwindigkeiten der Galaxien zu groß waren für die Menge an sichtbarer Materie. Seine Untersuchungen sind an vielen anderen Galaxienhaufen bestätigt worden.
Ein Problem liegt aber in der Annahme bei der Analyse der Geschwindigkeiten der Galaxien. Die Annahme ist, dass die Galaxien eines Haufens sich "virialisiert" bewegen, d.h., die Bewegungen sind willkürlich, haben keine Systematik. Bei genauerer Betrachtung trifft dies aber in den meisten Fällen nicht zu. So gibt es Galaxienhaufen mit Schnelläufern und auch ist klar, dass viele Galaxienhaufen keine sphäroidale, also "relaxierte" Struktur haben. Kurzum, die Anwendung des Virialsatzes ist vielfach ungerechtfertigt, und damit wäre die Berechnung der "fehlenden" Masse fehlerhaft.
Materie oder eine andere Erklärung?
Die Notwendigkeit der Existenz (des Postulats) der "Dunklen Materie" als Materie scheint unumgänglich, und viele Forscher haben allmählich offenbar vergessen, dass es nur ein Postulat ist. Dies trifft insbesondere zu auf die Personenkreise, die mit dem astronomischen Hintergrund dieser Tatsachen wenig vertraut sind. Es gibt bisher absolut kein Anzeichen (auch nicht aus der Teilchenphysik) für wahrhafte Materie als Erklärung für die "Dunkle Materie".
Inzwischen wird über eine ganz andere Erklärung der gravitativen Diskrepanz geforscht. Zur Berechnung der Modelle des Rotationsverhaltens wurde bislang das Gravitationsgesetz nach Newton benutzt. Eine Alternative ist die Verwendung der "modifizierte Newtonsche Dynamik" (MOND), ein Vorschlag, der 1983 von Milgrom gemacht wurde.
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Als empirische Variante der klassischen Mechanik und fundiert in der Modellierung der Rotation der Spiralgalaxien kann MOND aber auch viele andere Phänomene erklären. Darunter ist die sogenannte Tully-Fischer Relation von Galaxien, aber wichtiger sind die Rotationsgeschwindigkeiten in sehr massereichen Galaxien und die Stabilität der Scheibe der Zwerggalaxien um unserer Galaxis, alles Phänomene, die von herkömmlichen "Materie-DM" Modellen nicht erklärt werden können. Insbesondere hat Bob Sanders zu der Realisierung der MOND-Alternative beigetragen. In der heutigen Forschung wird die Alternative kontrovers diskutiert und MOND wird von den lange etablierten Gruppen meist ignoriert.
Unabhängig von den Befunden bei Spiralgalaxien erfordern die Modelle für die Struktur des ganzen Universums offenbar auch Dunkle Materie. Diese Problematik wird an anderer Stelle besprochen.
- Bosma, A. 1978, "The distribution and kinematics of neutral hydrogen in spiral galaxies of various morphological types", PhD Thesis, Univ Groningen
- Bottema, R., Pestana, J.L.G., Rothberg, B., Sanders, R.H. 2002, A&A 393, 453
- Fich, M., Tremaine, S. 1991, Ann. Rev. Astron. Astrophys. 29, 409
- Milgrom, M. 1983, Astrophys. J., 270, 371
- Oort, J.H. 1932, Bull. Astr. Inst. Netherlands, VI, 249
- van Albada, T. S., Bahcall, J. N., Begeman, K., Sancisi, R. 1985, ApJ, 295, 305
- Zwicky, F. 1933, Helvetica Physica Acta. 6, 110
Abgefasst Juli-August 2016. Veröffentlicht in
Astronomie+Raumfahrt 157 (2017).
Der Autor bedankt sich bei U.Backes für Anregungen.
Internet August 2017: Begriff-DM.html